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„Wenn sie uns wenigstens angerufen und gesagt hätte, worauf sie in der Bibliothek gestoßen ist.“ Barbro schleuderte das Telefon auf die Fußmatte und rutschte auf dem Beifahrersitz in eine bequeme Haltung.
Dann saßen sie alle da und richteten ihren Blick nach vorn, als wäre die vor der Windschutzscheibe vorbeiziehende Welt die Leinwand eines Autokinos. Diese Welt, das waren die Baumwipfel und Villen, die den Djurgårdsvägen säumten. Wie immer, wenn die nächste Ampel noch nicht zu sehen war, fuhr Henning achtzig. Kjell glaubte, dass es Henning gar nicht bewusst war, denn bei jeder Schwäche, der Henning sich hingab, herrschte beachtliche Konstanz und Gleichmäßigkeit.
Kjell hatte es sich mit seiner Sprachlosigkeit auf der Rückbank bequem gemacht. Seine fehlenden Worte fragten, wie er es bis zu diesem Punkt hatte bringen können, wenn doch der Weg so falsch gewesen war.
„Du musst nicht so schnell fahren“, rief er dann nach vorn, um seine Gedanken zu wechseln. „Der Ermittler ist bestimmt noch nicht da.“
Sie hatten dem Ermittler aus Rom einen Streifenwagen ins Hilton geschickt, der ihn so schnell wie möglich zur Botschaft bringen sollte. Ein anderer Ort war Kjell nicht eingefallen.
Henning knurrte. Damit sagte er, dass er nicht so schnell fuhr, weil er schnell ankommen, sondern weil er schnell fahren wollte.
Über der Nordseite der Botschaft lag noch Schatten. Henning ließ den Wagen am Straßenrand ausrollen. Die beiden vor der Einfahrt postierten Polizisten drehten sich träge zu ihnen um. Erst zögerten sie mit dem Aussteigen. Es war gemütlicher, im Wagen zu warten, aber dann stellte sich Henning auf die Straße, um der Wartezeit mit einer Zigarette einen Sinn zu geben. Einer der beiden Uniformierten kam auf sie zu.
„Wir warten noch auf jemanden“, rief Henning.
„Wenn ihr auf eure Kollegin wartet, die ist gerade wieder weg.“
„Welche Kollegin?“, fragte Henning zurück.
Kjell und Barbro hatten alles durch die herabgekurbelten Fenster mitangehört und stiegen aus dem Wagen.
„Na, die Schwarzhaarige.“ Der Polizist ließ seine Hüften kreisen, um auch den Rest an Sofis Aussehen auf eine einfache Formel zu bringen.
Barbro lief auf ihn zu. Der Polizist erwartete eine Abreibung für seine obszöne Geste und ging in Deckung.
„Was wollte sie?“, fragte Barbro im Gehen.
„Sie war im Haus.“
„Das kann nicht sein. Sie würde es niemals ohne Begleitung eines Angehörigen der Botschaft betreten.“
Inzwischen hatten die drei den armen Kerl umringt.
„Die italienische Ermittlerin war doch dabei.“
„Wieso Ermittlerin?“, fragte Kjell. „Der Ermittler ist Francesco Baldo.“
Der Polizist hob die Achseln. Nun hatte auch der zweite Uniformierte das bequeme Lehnen an der Mauer aufgegeben und war zu ihnen geschlendert. „Sie wird eine Kollegin von ihm sein. Sie hat sich korrekt ausgewiesen und war in Begleitung eurer Kollegin. Die beiden haben sich sogar ähnlich gesehen.“
„Waren sie mit einem Auto da?“
Der Wachposten nickte. „Der gleiche wie eurer. Ein grauer V70. Wir dachten soeben, da kommen sie wieder zurück.“
„Wann genau sind sie gefahren?“
„Zwei Minuten, bevor ihr angekommen seid.“
„Ihr müsst ihnen doch begegnet sein“, sagte der andere. „Vorne beim Skansen, oder so.“
Henning und Barbro rannten zum Auto zurück. Kjell winkte zu dem zwanzig Meter entfernt stehenden Audi. Die beiden Leute vom Einsatzkommando darin verstanden und ließen den Motor an.
Henning konnte auf der Straße in einem Zug wenden. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Audi ihnen folgte, drückte er aufs Gas. Wie auf der Herfahrt war auf dem Djurgårdsvägen kein anderes Auto unterwegs. Sie passierten die schlafenden Kassenhäuschen am Skansen, dann Gröna Lund und die Kunsthalle. Henning steuerte auf die Brücke zu, aber plötzlich drückte er ohne erkennbaren Grund auf die Bremse. Kjell hatte nicht aufgepasst und prallte mit dem Gesicht gegen den Vordersitz. Er warf einen Blick aus dem Rückfenster. Zum Glück hatte der Audi genug Abstand gehalten.
Der Wagen stand. Barbro hob an, etwas zu sagen, aber Henning brachte sie mit einem Wink zum Schweigen. Dann war es lange still, nur der Motor surrte leise im Leerlauf.
„Das kann doch gar nicht sein!“, murmelte Henning und blickte stur geradeaus. Sie standen gleich vor der Brücke. „Vorhin mussten wir da vorne ewig an der roten Ampel warten. Wir hätten sie da schon sehen müssen, und wenn sie den Strandvägen genommen haben, was sehr wahrscheinlich ist, dann ergibt das ein Zeitfenster von gut zehn Minuten.“
Kjell spürte seit der Kirche eine Taubheit, die wie eine Decke über seinen Gedanken lag und sich nicht abschütteln ließ. Er beugte sich vor. „Henning. Was hältst du von Beckholmen? Bin neulich mit dem Schiff daran vorbeigefahren. Ist die einzige Abzweigung.“
„Aber eine Sackgasse“, erwiderte Barbro.
„Nicht, wenn man ungesehen in ein Boot umsteigen will, wie sie es neulich schon getan haben. Dann ist es ideal.“
Henning schlug das Lenkrad um und wendete mit quietschenden Reifen. Dabei kurbelte er das Fenster herab und winkte den anderen Wagen hinter sich her.
Als sie wieder den Vorplatz des Skansen erreichten, bog Henning scharf ab und steuerte auf den kleinen Weg zu, der zwischen zwei Villen hindurchführte und für Ortsunkundige wie die Einfahrt auf ein Grundstück aussah. Der Wagen ratterte über die Holzbrücke.
Dahinter gabelte sich die Straße. Der eine Weg führte links und der andere rechts am Ufer der kleinen Insel entlang.
„Weder noch“, antwortete Kjell auf die stumme Frage und sprang aus dem Wagen. Henning stellte den Motor ab und folgte ihm. Der Passat hielt auf der Brücke. Wegen des Geländers mussten sich die beiden Insassen durch den engen Türspalt zwängen.
„Wie seid ihr bewaffnet?“, fragte Kjell.
Die beiden nickten nur.
„Alles mitnehmen. Wir gehen über den Fels.“
Eine Auffahrt führte zu den roten Holzhäusern, die vereinzelt auf dem Hügel standen. Beim Hinauflaufen wunderte sich Kjell, wer dort wohl wohnte. Beckholmen war eigentlich nicht mehr als eine Werft mit Trockendocks, Kränen und einer Menge Gerümpel. Wahrscheinlich lebten Angestellte der Werft darin oder Künstler, die ein Industrieidyll für ihre Inspiration benötigten.
Auf dem schroffen Felsen wuchsen an vielen Stellen hohes Gras und sogar vereinzelt Bäume. Von dort oben sahen sie, dass das Dock nicht geflutet war.
„Da steht der Volvo!“, flüsterte Barbro.
Kjell winkte die anderen weiter. Der Hügel erstreckte sich bis zum Südende der Insel. Dann tauchten die ersten Köpfe auf. Kjell ging in Deckung. Als die anderen in geduckter Haltung zu ihm aufschlossen, starrten sie gebannt auf die Menschenmenge, die unter ihnen zu sehen war. Die meisten von ihnen standen auf der Schleusenwand. Auf einem sprungbrettbreitem Weg konnte man auf ihr hin und her laufen.
Die Ausmaße des Docks waren riesig. Sogar eine Finnlandfähre hätte hineingepasst. Kjell schätze die Länge auf zweihundert Meter und die Breite auf fünfzig. Eine Treppe führte von der Kante hinab zum Grund. Er zählte die Treppenstufen und kam zu dem Ergebnis, dass das Becken mindestens vierzig Meter tief sein musste. Also fast so tief, wie der Observatoriumsberg hoch war, meldete eine andere Region seines Gehirns.
Auf der Schleusenwand und am Ufer daneben mussten mehr als fünfzig Personen stehen. Ihre Gewänder wehten im Morgenwind. Kjell konnte nur Männer unter ihnen entdecken.
Hinter ihm klickte es metallisch. Die beiden vom Einsatzkommando hatten ihre Gewehre bereitgemacht.
„Da ist Sofi!“, flüsterte Henning. „Sie sitzt auf der Motorhaube.“
Über das Dach des Wagens hinweg sah man nicht mehr als die obere Hälfte ihres Hinterkopfes. Der Wagen stand etwas abseits der Menschenmenge. Offensichtlich war sie kurz davor war, die Insel zu verlassen. Vor dem Ufer schaukelten acht Boote. Ein Mann stand im flachen Wasser.
„Da könnten wir nichts ausrichten“, brummte Henning. „Es sind zu viele.“
Kjell streckte seinen Arm aus wie einen Speer. „Den da lassen wir nicht entkommen.“
Es war Charun. Von allen Menschen dort unten trug er als einziger einen Bart. Er kniete auf dem Schleusensteg, und seine Hände steckten in einer Kiste. Ihm gegenüber kniete eine weitere Person. Schwarzes langes Haar hing an ihrem Rücken herab. Das musste das Mädchen sein, das Sofi in die Botschaft begleitet hatte. Sie war die einzige weitere Frau.
„Könnt ihr den Bärtigen reiseunfähig schießen?“, flüsterte Kjell, ohne sich umzudrehen.
Der Schütze hinter ihm zog entschlossen die Nase hoch. Er warf sich neben Kjell aufs Gras und legte die Waffe an.
„Pass auf, dass du das Mädchen nicht triffst.“
Der Schütze wartete, bis der Bärtige sich aufrichten wollte. Als die Kugel seinen Oberschenkel traf, krachte sein Körper rücklings auf den Steg.
Alle Köpfe wandten sich um, aber offenbar war es nicht so leicht, die Herkunft der Kugel zu bestimmen. Sofi sprang vom Wagen weg und suchte neben der Kühlerhaube Deckung. Sie musste wohl die ganze Zeit auf Charun geblickt haben.
Barbro telefonierte mit der Funkzentrale.
Doch der Schuss stiftete keine Panik unter den Männern. Stattdessen schien alles nur schneller abzulaufen. Sie sprangen in die Boote. Zwei davon legten sofort ab.
Charun schleppte sich zur Kiste zurück und half dem Mädchen, den Deckel zu schließen. Dann half sie ihm beim Aufstehen. Das Mädchen hob die Kiste. Er legte seine Hände auf ihre Schultern, und so verweilten sie für einen Augenblick.
Henning drückte sich mit den Armen hoch, bereit zum Stürmen des Ufers, aber dann hielt er inne. Charun konnte sich kaum auf den Beinen halten und würde es nicht in eines der Boote schaffen.
Er versuchte es auch nicht. Das Mädchen wandte sich ab und lief allein zum letzten Boot. Als sie am Bug stand und immer noch die Kiste in den Armen hielt, sah sie zu Charun herüber, der sich ihr auch zugewandt hatte. So verharrten sie, während das Boot sich rückwärts vom Ufer entfernte.
Sofi kam wie vom Rand eines Bildes in das Zentrum gelaufen. Doch sie erreichte das Zentrum zu spät. Charun legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel hinauf. Dann begann sein Körper zu kippen, ohne jede Regung und mit ausgebreiteten Armen. Während er auf den Grund des Beckens zufiel, wurden Sofis Schritte immer langsamer. Dann blieb sie stehen.
Fata aliter ius suum peragunt nec ulla commoventur prece non misericordia flecti non gratia sciunt. Cursum irrevocabilem ingressa ex destinato fluunt, quemadmodum rapidorum aqua torrentium in se non recurrit nec moratur quidem quia priorem superveniens praecipitat, sic ordinem fati rerum aeterna series rotat, cuius haec prima lex est stare decreto.
Die Vorsehung verfolgt ihr Recht auf andere Weise. Und keine Bitte kann sie erweichen, kein Mitleid umstimmen, und auch nicht Zuneigung. Gnade kennt sie nicht. Auf unwiderruflicher Bahn fließt das Schicksal nach fester Bestimmung, so wie auch das Wasser im reißenden Bach nie zurückströmt und nicht mal stillstehen kann, weil das Nachfolgende auf das Vorausgehende stürzt. So rollt die ewige Folge der Ereignisse nach der bestimmten Ordnung dahin. Sein Prinzip heißt, auf seinem Beschluss zu beharren.